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Jean-Paul Sartre
DIE FLIEGEN


Premiere: 10. Mai 2008, Theater Am Schwanhof

Fotos link

Besetzung:
Inszenierung -
Ausstattung -
Dramaturgie -

Inspizienz -
Regieassistenz -
Soufflage -
Ekkehard Dennewitz
Marlis Knoblauch a.G.
Annelene Scherbaum

Ito Grabosch
Felicia Daniel
Bernd Kruse
DIE FLIEGEN

Darsteller:
Jupiter - Jochen Nötzelmann a.G. | Orest - Florian Federl | Ägist - Jürgen Helmut Keuchel | Elektra - Franziska Endres | Klytämnestra - Uta Eisold | Volker (1); Erynnien, Wachen etc. - Nicolas Deutscher | Volkia (2); Erynnien, Wachen etc. - Ulrike Knobloch | Volker (3); Erynnien, Wachen etc. - Bastian Michael


Stück:

„Es sind nur Fleischfliegen, ein wenig fetter. Vor fünfzehn Jahren hat sie ein mächtiger Aasgeruch in die Stadt gelockt. Seither werden sie fetter. In fünfzehn Jahren werden sie so groß wie kleine Frösche sein.“

Orest kehrt nach 15 Jahren unerkannt in seine Heimat Argos zurück. Seine Mutter Klytämnestra und Ägist, ihr Geliebter, herrschen über die Stadt, die von Jupiter seit dem Mord an König Agamemnon von einer Fliegenplage gequält wird. Ägist veranstaltet zwar jährlich einen öffentlichen Trauerakt für den toten König, das Volk lebt jedoch in einem lethargischen Reuezustand. Allein Orests Schwester Elektra verlangt Rache für den ermordeten Vater. Der friedfertige Bruder lässt sich überzeugen und tötet Ägist sowie seine Mutter Klytämnestra, wodurch er aber neue Ängste und Gewissensbisse in der Stadt auslöst. Jupiter verspricht den Geschwistern den Thron von Argos, wenn sie ihre Tat bereuen. Elektra ist dazu bereit. Orest hingegen fühlt sich frei gegenüber der göttlichen Macht und nimmt alle Verantwortung auf sich...


Pressestimmen:

Marburg News

Volles Theater voraus

"Die Fliegen" feierte Premiere im Theater am Schwanhof

19.05.2008 - atn

"Les Mouches“ oder auf deutsch "Die Fliegen“ von Jean-Paul Sartre hat am Sonntag (18. Mai) Premiere im Theater am Schwanhof gefeiert. Dank der herausragenden Leistungen der Schauspieler und der anspruchsvollen Inszenierung von Ekkehard Dennewitz erwachte an diesem Abend nicht nur ein Stück Antike zum Leben, sondern auch der geniale Geist Sartres. "Die Fliegen“ greift den uralten Atridenm-Mthos auf und erzählt die Geschichte der griechischen Stadt Argos, auf der der Fluch vieler Morde und Untaten lastet. Zu Beginn der Aufführung wurden die Zuschauer ganz automatisch zu Bürgern dieser Stadt, da die Sitze in Form einer Arena angeordnet waren. Innerhalb von 90 Minuten lief dann vor den Augen Aller ein dramatischer Kampf zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen, dem Frei-Sein und dem Gebunden-Sein, dem Glück und der Verzweiflung, dem Hass und der Liebe ab. Den Geist Sartres erkannte man in "Die Fliegen“ nur allzu deutlich in Orest wieder, der von Florian Federl gespielt wurde. Orest ist der Sohn der in Argos herrschenden Königin Klytämnestra, die ihren Mann Agamemnon auf dem Gewissen hat. Sie regiert die Stadt gemeinsam mit dem König Ägist mit eiserner Hand und gönnt auch ihrer ungeliebten Tochter Elektra kein besseres Leben als das einer Dienstmagd. Elektra, dargestellt von Franziska Endres, ist provokativ, widerspenstig und von Hass gegen ihre Mutter und ihre Heimatstadt fast bis zum Wahnsinn erfüllt. Ebenso verachtet sie den Gott Jupiter, dem die gesamte Stadt angsterfüllt opfert, da er Argos seit dem Tod Agamemnons mit Fliegen plagt. Die Fliegen sind mit den Jahren fett und allgegenwärtig geworden. Sehr real hingen sie dann auch in schillernden Farben während des gesamten Stücks von der Decke des Theatersaals. Jupiter, dargestellt von Jochen Nötzelmann, ist eigentlich ein bedauernswerter Gott, da er auf endlose Tauschgeschäfte mit den Menschen und heikle Täuschungsversuche angewiesen ist, um seine Existenz unter den Menschen zu sichern. Seine dennoch sehr mächtige Erscheinung war mit Nötzelmann, dessen Haut in dem Stück majestätisch golden schimmerte, perfekt verkörpert. Federl spielte als einziger in Alltagskleidung. Zu Beginn der Vorstellung blieb er deswegen auch von den zeitweiligen Bürgern von Argos, die um ihn herum in den Rängen saßen, unerkannt. Auch seine Schwester Elektra erkannte ihn erst, nachdem er sein erst so sanftes und liebenswertes Wesen abgelegt hatte. Das Geschwisterpaar wurde mit Federl und Endres sehr greifbar. Erstaunlich an der schauspielerischen Leistung der beiden war vor allem ihre Wandlungsfähigkeit und die Fähigkeit, innerhalb weniger Augenblicke ein ganz anderes Wesen zu verkörpern. Doch auch Jürgen Helmut Keuchel als König Ägist lieferte eine beeindruckende Vorstellung ab. Er musste in die Rolle desjenigen schlüpfen, der als gehasster König die Wurzel allen Übels zu sein schien, selbst jedoch unter dem gnadenlosen Joch Jupiters leidet und schließlich von Orest getötet wird. Keuchel spielte seine Rolle aber derart natürlich und überzeugend, dass die Theater-Umgebung für den Zuschauer komplett in den Hintergrund treten konnte und die Tragödie in Argos für eine Weile zur Realität wurde. Für Lacher in dem Mord-Drama sorgten die Erinnyen und Wachen in Gestalt von Nicolas Deutscher, Ulrike Knobloch und Bastian Michael. Sie waren sowohl die Diener des Königs, als auch kindliche und chaotische Clown-Figuren, die so etwas wie den noch unverdorbenen Menschen darstellten. Gleichzeitig verkörperten sie die Stimmen des Volkes und später die schwindende Macht Jupiters, die Elektra zur Reue und damit zum Unterwerfen überreden wollen. Dennewitz und sein Team haben mit dieser Inszenierung und der Übersetzung von Traugott König mehreres geschafft: Nicht nur der Geist Sartres ist lebendig geworden. Auch die Geschichte, die erzählt wurde, hat sich ihren eigenen mitreißenden Rahmen geschaffen. Die Rollen waren dabei optimal besetzt und haben allesamt nichts an Überzeugungskraft und Ausstrahlung zu wünschen übrig gelassen. Was schließlich mit "Die Fliegen“ auch gelungen ist – nicht zuletzt durch die bewusste Anordnung der Stühle – ist das Überspringen eines Funkens von einem 65 Jahre alten Theaterstück zu einem Publikum, das sich heute mit ähnlichen Problemen identifizieren kann, wie sie Federl, Endres, Eisold und ihre Kollegen so meisterhaft beackert haben.

Anika Trebbin - 19.05.2008



Giessener Anzeiger

Tragödie des Muttermörders im nachtblauen Totenreich
Ekkehard Dennewitz inszeniert Sartres "Fliegen" als dunklen Mysterienkreis im Tasch 2

Rüdiger Oberschür MARBURG. Jupiter ist ein karger Baum. Elektra bewirft ihn in Ekkehard Dennewitzs Inszenierung von Jean-Paul Sartres Antikenadaption "Die Fliegen" mit Müll und dreckiger Wäsche. Dabei zieht der Götterkönig in zweiter, goldener Gestalt seine Kreise hinter den Zuschauerrängen, die kreisrund um die weiß ausgelegte Spielfläche der Studiobühne des Theaters am Schwanhofs (Tasch 2) gebaut sind. Schon im ersten Bild fallen die Fliegen von der Decke. Wie ein Mobile hängen die übergroßen Insekten zigfach an Gummifäden herab. Im Publikum sitzt Orest als korinthischer Philepos getarnt, während seine Schwester, die der Bruder aus dem Jammertal Argos zurückholen will, dem Göttervater lästert und ihre Degradierung von der Prinzessin zur Dienstmagd beklagt. Sartres "Fliegen", 1943 in Paris uraufgeführt, gilt bis heute als Erneuerung jener antiken Atriden-Tragödie um den Königsmord an Agamemnon durch seine Frau Klytämnestra und den darauf neu etablierten Herrscher Ägist, der seine Macht mit Hilfe Jupiter sichert. Mit einem Schwarm Aasfliegen und einem obsessiven Totenkult halten der weltliche und der göttliche Herrscher Volk und Stadt in Atem. Ekkehard Dennewitz dreht in seiner Studioinszenierung das Stück auf seine dunkle Seite. Von der atmospährischen Schwüle, die im Text angelegt ist, von blutbesschmierten Mauern, verödeten Straßen und einer "Hitze von Kellerasseln" ist kaum etwas zu vernehmen. Die Licht- und Sprechstimmungen gleichen einem nachtblauen Totenreich. Volk und Erinnyen (Nicolas Deutscher, Ulrike Knobloch, Bastian Michael) schickt Dennewitz als Bergbau-Clowns ins Rennen (Ausstattung: Marlis Knoblauch). Chorisch präzise und mit mancher Slaptsick-Einlage gibt das Trio in überdimensionierten Kostümen die drei Kumpels mit schwarzer Nase. Ihr Fliegenklatschen kann die folgende Familienmorde ebenso wenig verhindern wie es die weiteren Opfer können. Uta Eisold gibt eine ewig Luft fächernde Herrscherin, die der Tochter verzweifelt einen letzten Rest Staatsraison einzuflößen versucht. Dabei versieht sie mit letzten Zügen von Menschlichkeit. Jürgen Helmut Keuchel schafft es, seinem Ägist einen gebrochenen Willen zur Macht zu verleihen, auch wenn er unter der schwarzen Montur gehörig durch den Raum poltert. Franziska Endres´ überzeugende Darbietung zeigt eine zerissene Elektra zwischen bockiger Furie und sanftmütiger Königstochter. Florian Federls Orest ist ebenso stimmig, wirkt bei aller Geschwisterliebe zurückhaltend wie berechnend. Mit Beuys-Hut und Augenringen sieht er aus wie ein abgehalftete Rockstar. Sein Muttermord ist der präzise Höhepunkt eines frostigen Finales. In goldener Körperfarbe streift Jochen Nötzelmann als Jupiter in dem Mysterienkreis umher. Alleine für seinen minimalistischen Gestenaufwand und seine Präsenz lohnt sich ein Besuch der Inszenierung. Dennewitz gewinnt Sartres "Fliegen" das richtige Maß an arschaischer Wucht und philosophischem Gehalt ab. Beim Existentialisten Sartre wird die Tragödie des Muttermörders zum Modell von Freiheit und Unfreiheit. Orests Auflehnen gegen die Götterwelt und sein Muttermord zur Befreiung der Schwester ist das Paradebeispiel des eigenverantwortlichen Menschen. Gerade die letzten Szenen zwischen Bruder und Schwester, die von Jupiter ein Angebot des Throns bekommen, wenn sie sich den religiösen Dogmen in Argos unterordnen, zeugen von schauspielerischerf Reife. Das Premierenpublikum im ausverkauften Tasch 2 nahm die eineinhalbstündige Produktion mit viel wohlwollendem Beifall auf. * Nächste Vorstellungen: 27. und 28. Mai sowie am 8. Juni, jeweils um 20 Uhr, am 8. Juni um 18 Uhr.



Oberhessische Presse

Marburg. Am Sonntagabend zeigte das Ensemble des Hessischen Landestheaters Marburg erstmals "Die Fliegen" von Jean Paul Sartre im Tasch - vor ausverkauften Rängen.

von Christine Krauskopf

Weil die Premiere der "Perser" in der Vorwoche recht schwere Kost bedeutete, sollte es bei den "Fliegen" von Jean Paul Sartre wohl etwas leichter zugehen. Eine fröhliche Interpretation des modernisierten antiken Stoffs drängt sich allerdings nicht unmittelbar auf. Denn die Geschichte des jungen Freigeists Orest, der zum Mörder wird, ist ernst: Orest kehrt in seine Heimatstadt Argos zurück. Er findet ein völlig verängstigtes, von Glauben, Reue und Fliegen geplagtes Volk vor. Nur seine Schwester Elektra wagt es, gegen Herrscherpaar, Totenkult und Gottesanbetung aufzubegehren. Als Prinzessin genießt sie Narrenfreiheit. 15 Jahre zuvor hatte die Mutter der Geschwister, Klytämnestra, gemeinsam mit ihrem Liebhaber Ägist den damaligen König Agamemnon ermordet und sich selbst auf den Thron gesetzt. Das Volk halten sie klein, indem sie permanent ihren Mord öffentlich bereuen und auch von ihren Untertanen Reue verlangen. Das funktioniert, weil jeder irgendetwas zu bereuen hat. Schon Kinder werden in Gedenken an die Erbsünde erzogen. Vor lauter Reue, Buße und Selbsthass tragen die Bewohner immer Trauer. Höhepunkt des Kults ist der Jahrestag des Mordes an Agamemnon. Dann, so behauptet Ägist, kommen die Toten aus einer Grotte, besuchen die Lebenden und lassen sie leiden. Während Elektra von Freiheit und Unbeschwertheit nur träumt, tötet Orest das Königspaar und ist auch noch stolz darauf. Ekkehard Dennewitz nahm sich für seine Inszenierung die Freiheit, das Stück ordentlich einzukürzen und das reuende Volk als ziemlich alberne Clowns darzustellen. Dass ihre weiten Overalls grau waren und die Fliegenklatschen weiß und die dicken Nasen schwarz, änderte nichts an ihrem lebensfrohen Eindruck. Seine Interpretation des Daseins unter autoritären Herrschern mag von Dennewitz' persönlichen Erfahrungen in der DDR geprägt sein, in der sich jeder Mensch auch unter größtem Druck noch ein Plätzchen für ein bisschen Freiheit schaffen konnte. Die Handlung der "Fliegen" wird in dieser Auslegung jedoch nicht so recht plausibel. Warum sollte man ein offensichtlich quicklebendiges Volk befreien? Hinzu kommt, dass Sartres Figur des "Pädagogen" mitsamt seinen Ausführungen ersatzlos gestrichen wurde. Im Original wird Orest von seinem Lehrer zu Toleranz und eigenverantwortlichem Handeln ohne Rücksicht auf einen drohenden Gott erzogen. Florian Federl muss sich nun als Orest - ohne diese Erklärungen im Rücken - glaubhaft vom neugierigen Fremden zum motivierten Mörder verwandeln. Und das gelingt dem jungen Schauspieler ganz ausgezeichnet durch aufrechte Haltung, erhobenem Kopf, offenem Blick und eine klare, selbstbewusste Sprache. Große Gesten macht er selten, braucht er auch nicht. Ganz anders Franziska Endres. Durch die Streichungen am Anfang bekommt ihre Rolle als Elektra größeres Gewicht. Sie spielt die junge Prinzessin sehr extrovertiert, voller Wut und lauter Verzweiflung. Mal schlägt sie sich wie King Kong an die Brust, mal tobt sie wie eine Karate-Kämpferin durch die Arena. Dass sie ihre Energie vorwiegend für das Warten und das Hoffen auf den Bruder verwendet, erscheint erst nur dann glaubwürdig, wenn der große Schritt vom unverbindlichen Träumen zur realen Tat berücksichtigt wird. Das Herrscherpaar bleibt in seinen Rollen überwiegend zurückhaltend. Die beiden haben die Situation satt, sind der Unterdrückung müde, für Veränderungen fehlt es ihnen an Kraft und auch an Motivation. So lässt sich Jürgen Helmut Keuchel als Ägist recht gleichmütig töten, Uta Eisold brüllt zwar als Klytämnestra aus dem Off, während Orest sie in der Mangel hat. Ein langer Kampf ums Leben scheint trotzdem unwahrscheinlich. Absolut stimmig! Ein Highlight im Wortsinn bildet Jochen Nötzelmann, der als Jupiter das Ensemble ergänzt. Souverän und majestätisch lässt er Elektra rebellieren, diskutiert überheblich mit Ägist und Orest. Und auch wenn Orest seine Freiheit erkennt und damit Jupiter quasi entmachtet, Jupiter nimmt's hin. Das wirkt wahrhaft göttlich! Marlis Knoblauch, die zum ersten Mal das Marburger Ensemble ausstattete, hat ihm einen goldenen Anzug verpasst, sein Gesicht und seine Brust mit goldener Farbe bemalt und mit Strahlen verziert. Sie unterstreicht den Charakter des Gottes damit ausgezeichnet. Auch bei den Kostümen der anderen beweist sie viel Phantasie und Einfühlungsvermögen in die Rollen. Ägist und Klytämnestra treten in metallisch wirkenden, weit ausgestellten Gewändern auf, die an japanische Kämpfertracht erinnern. Orest stellt sich mit Hut, Lederjacke und Jeans vor, später, als Mörder, tritt er in wilder Kluft auf. Das I-Tüpfelchen bilden die Kostüme, in denen Nicolas Deutscher, Ulrike Knobloch und Bastian Michael stecken: Ihre weiten, unförmigen Anzüge als Volk und später die zipfelige Fliegentracht sind so phantasievoll wie großartig! Das Publikum war am Ende der Vorstellung begeistert: Die Zuschauer klatschten, pfiffen und trampelten ausdauernd. Die nächsten Aufführungen am 27. und 28. Mai jeweils um 20 Uhr im Tasch.



Marburger Forum

Freiheit als Farce.

Zur Premiere von Jean-Paul Sartres: Die Fliegen. Neuübersetzung von Traugott König, Das Hessische Landestheater Marburg, am Sonntag, 18. Mai 2008, Theater Am Schwanhof

Das Theaterstück "Die Fliegen" erscheint, ebenso wie Sartres erstes philosophisches Hauptwerk "Das Sein und das Nichts", 1943, die Uraufführung findet im besetzten Paris statt. Sein Autor sucht an keiner Stelle zu verbergen, dass er die Hauptfigur, Orest, zum Träger seiner philosophischen Überzeugung gemacht hat, ja dass eigentlich die gesamte Handlung eine literarische Umsetzung seiner existenzialistischen Grundthesen darstellt. Trotzdem sind "Die Fliegen" an keiner Stelle, in keiner Szene, ein bloßes, einer abstrakten Theorie entstammendes, Konstrukt. Offenbar ist Sartre eine Verbindung von Philosophie und Literatur gelungen, wie sie bislang nicht vorkam.

Aus dieser Verbindung resultiert die innere Lebendigkeit des Stücks, sein energetischer Strom, der den Leser auch heute noch erfasst. Orests Einsicht: "Ich bin frei, Elektra! Die Freiheiten hat mich getroffen wie der Blitz. [...] Ich habe meine Tat getan, Elektra, und diese Tat war gut. [...] Und je schwerer sie zu tragen ist, um so mehr werde ich mich freuen, denn meine Freiheit, das ist diese Tat" ist von vornherein mehr, als ein bloßes Reflexionsprodukt; sie ergreift den ganzen Menschen und formt ihn um. Erkenntnis und Selbstwerdung verschmelzen in einem Akt. Die erste enthält unmittelbar eine moralische Forderung: Schaffe dich selbst - begreife, dass nichts in dieser Welt dir einen Grund für deine Handlung gibt, den du nicht erst zu deinem machen müsstest.

Der Einwand, der dem Existenzialismus von Anfang an entgegengehalten wurde, er leugne die Situationsabhängigkeit des Menschen, ist falsch, falsch also auch, was Ekkehard Dennewitz mutmaßt: "ist es eine extreme Drucksituation, die ihn [Orest] in die Tat treibt?" (Programmheft) Selbstverständlich, sagt Sartre etwa in seinem berühmten Vortrag: "Ist der Existenzialismus ein Humanismus?", sind wir alle durch und durch von unseren allgemeinen und individuellen Bedingungen geprägt - und haben dennoch die Kraft, ihnen in einem existenziellen Augenblick zuzustimmen oder uns gegen sie zu entscheiden. "Wenn wiederum Gott nicht existiert, so finden wir uns keinen Werten, keinen Geboten gegenüber, die unser Betragen rechtfertigen. So haben wir weder hinter uns noch vor uns [...] Rechtfertigungen oder Entschuldigungen. Wir sind allein, ohne Entschuldigungen. Das ist es, was ich durch die Worte ausdrücken will: Der Mensch ist verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, andererseits aber dennoch frei, da er, einmal in die Welt geworfen, für alles verantwortlich ist, was er tut" ("Ist der Existenzialismus ein Humanismus?").

Sartres radikale Erkenntnis scheint immer noch, wenn auch unter veränderten Voraussetzungen, zu gelten, ob man das wahrhaben will oder nicht. Sie meint keineswegs, man könne sich in jeder Situation für etwas Beliebiges entscheiden, wohl aber, dass wir aus einem Kernpunkt unserer Existenz heraus dem zustimmen, oder es negieren, was wir sind. Gerade in unserem individuellsten Sein erschaffen wir uns selbst und sind solchermaßen für uns verantwortlich. Nicht von ungefähr entstand diese Philosophie zu einem Zeitpunkt, da den Franzosen von den deutschen Besatzern jede Freiheit genommen war. Sartre selbst hat sich zu dieser geschichtlichen Konstellation, in der seine Theorie entstand, geäußert: eben die extreme, auch politische, Unfreiheit habe das Bewusstsein der Freiheit geschärft.

Der Ernst des Engagements (neben Wahl und Situation einer der Grundbegriffe des Existenzialismus), der sich in dem Stück "Die Fliegen" bekundet, resultiert mithin aus dem Ergreifen eines geschichtlichen Augenblicks und ist folglich nicht nur sein Produkt. Im Schauspiel kommen philosophische Erkenntnis, politische und persönliche Entscheidung zu einer Synthese, die das Aussprechen jener zu einem dramatischen Akt macht. Soll man sich dem Widerstand anschließen, oder nicht? Dieses von Sartre in seinem Vortrag abgehandelte Beispiel macht deutlich: jeder einzelne hat diese Entscheidung zu fällen und stellt sich damit dem Gewissen seiner Freiheit.

Wir leben nicht mehr in einer politischen Situation, die solche, lebensbedrohlichen, Entscheidungen erfordert. Unser Alltagsdasein lässt uns weder unsere Freiheit noch ihr Gegenteil deutlich empfinden. Deswegen haben wir heute große Schwierigkeiten, was den Existenzialismus ausmacht, zureichend zu begreifen. Eine Gegenwartsinszenierung der "Fliegen" findet in einem völlig veränderten gesellschaftlichen Umfeld statt. Lässt sie nun, was vielleicht nicht zu vermeiden ist, den inneren Ernst des Stücks, gleichsam seine dramatische Haltung, beiseite, so treten seine philosophischen Einsichten wie dürre Lehrsätze auf. Versuchten die Schauspieler sie wie aus Überzeugung zu sprechen, so gerieten sie höchstwahrscheinlich ins Deklamatorisch-Komische. Will man dem entgehen, bleibt nur, sie gegen ihren Gehalt zu intonieren. Wenn folglich Florian Federl "ich bin frei" sagt, klingt das, soll es klingen, wie der Jargon eines Jugendlichen des 21. Jahrhunderts, der sich selbst nicht so ganz abnimmt, was er da von sich gibt.

Federl und Endres sprechen auf diese Weise - wobei Endres meistens schreit und stampft - , um den Ernst des Sartreschen Ansatzes, dem es ums Ganze geht, zu desavouieren. Das gelingt ihnen ausgezeichnet. Zu wohl keinem Zeitpunkt "glaubt" ihnen der Zuschauer, was sie spielen (wobei in den Hochphasen des Theaters eben dieser Glaube sich mit dem entgegengesetzten Bewusstsein, einer Aufführung beizuwohnen, amalgamierte). Da nun die Gefahr entsteht, in Langeweile zu münden, begegnet man ihr durch Turbulenz, durch viel Gerenne und ähnlichem, sowie der Einführung eines Hanswurst-Faktors: das Volk, hat man bei Shakespeare gelernt, ist in seiner burlesken Art immer für derbe Späße gut. Leider nehmen diese so viel Zeit in Anspruch, dass Partien des Stückes, die für den Zusammenhang wichtig sind, gestrichen werden mussten; weshalb es manchen Zuschauern schwer gefallen sein dürfte, den Gesinnungswechsel Orests nachzuvollziehen.

Übrigens spricht die ältere Generation der Schauspieler, Nötzelmann (wieder mit nackter Brust, wie gewöhnlich), Keuchel und Eisold, in anderer Diktion und dokumentiert so den Bruch zwischen den herrschenden Erwachsenen und ihren Kindern. Zumindest ist es wohltuend, nicht nur für die Ohren, auch einmal solchen ruhigen Sequenzen folgen zu können. Vor längerer Zeit hat Dennewitz die "Troerinnen" des Euripides (in der Bearbeitung Sartres') inszeniert und damit dem Marburger Theater Abende beschert, die lange nachwirkten und sich bis heute im Gedächtnis halten. Dieses Mal setzt er auf etwas anderes: die von Sartre so hochgehaltene Freiheit ist, sagt er uns, zur Farce verkommen, der muttermordende Orest gebärdet sich eher wie einer der Gewinner von "Deutschland sucht den Superstar": selbst blutbeschmiert sieht er noch nett aus und scheint um Beifall zu bitten. Die Marburger haben ihn denn auch am Schluss freundlich gespendet, aber begeistert waren sie nicht.

Ist es wirklich so, dass das heutige Publikum mit dem Gehalt selbst der um die Mitte des vorigen Jahrhunderts geschriebenen Stücke nichts mehr anfangen kann? Oder hat das Theater seine den damaligen Zeitumständen, in Deutschland denjenigen der unmittelbaren Nachkriegsphase, angemessene Sprache verloren, eben dieses äußerst wichtige Ereignis, die Entfremdung von dem, was bisher als Substanz galt, im Regietheater ausgedrückt, eine neue aber noch nicht gefunden? Die alte Haltung des Ernstes und Engagements ist schon, weil sie autoritär strukturiert war, nicht mehr möglich - wie aber sollen dann Sartre oder Camus und Anouilh heute gespielt werden? Jedenfalls nicht als Posse, mit einer kleinen Beimischung von Ernsthaftigkeit. - Man lese das Folgende als keineswegs feindliche, aber doch als Provokation. Es ist kein Angriff auf einen durchaus bedeutenden Theatermann, sondern der zugegebenermaßen aggressive Ausdruck einer Sorge: Dennewitz' Fähigkeiten überragen das gestern Gebotene bei weitem. Vielleicht hat das Marburger Schauspiel die Richtung verloren - oder ist dabei, sie zu verlieren - , die ihm zu Beginn und in der Mitte der Dennewitzschen Intendanz steigendes Zuschauerinteresse eingebracht hat, manches fehlgeschlagene Experiment, wie etwa die Doppelpremieren, spricht dafür. Man darf und sollte mehr von ihm verlangen, als Gags und Slapstick. Die Besucher sollten sich der Gefahr eines sinkenden Pegels bewusst werden und ihr opponieren. Freiheit als Farce ist bedeutungslos. Und von Sartre, seinem Verständnis von Autonomie und Selbstwahl, lässt sich immer noch lernen, dass wir uns nicht mit den unernsten Zeitverhältnissen herausreden können.

Max Lorenzen



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